Das verschwindende Atomkraftwerk

. / copyright: Sascha Schuermann / dapd
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copyright: Sascha Schuermann / dapd

Bevor die Abbrucharbeiter im stillgelegten Atomkraftwerk Würgassen Feierabend machen können, wartet auf sie der “Bodycounter”. So heißt der vollautomatische Strahlenmessapparat, den die verschwitzten Männer in Unterhosen betreten.

Die Arbeiter tragen Badelatschen. Eine weibliche Computerstimme gibt Anweisungen: Rechten Arm heben, Finger spreizen, umdrehen. Nach wenigen Sekunden gibt der Automat Entwarnung. «Keine Kontamination», sagt die kühle Roboterstimme.

Der Weg aus dem Reaktor führt durch stickige Gänge. Wer sich im zugigen Treppenhaus begegnet, sagt «Mahlzeit». Rituale des Berufslebens. Doch Würgassen ist kein normaler Arbeitsplatz. Das E.ON-Atomkraftwerk im Kreis Höxter wird seit 1997 zurückgebaut. Der Meiler soll komplett weg – und ist somit in Zeiten von Fukushima und Energiewende eine Art Vorreiter des Atomausstiegs.

Besuchergruppe aus Japan

«Manchmal kommt schon ein wenig Wehmut auf», sagt Peter Klimmek. Der Elektrotechniker arbeitet seit 1975 in dem Atomkraftwerk. Der bärtige 62-Jährige spricht mit freundlicher, leiser Stimme. Seit Jahrzehnten führt er Besuchergruppen durch das Kraftwerk.

Klimmek blickt in eine Halle des Reaktorgebäudes, die gerade durch Spezialisten in orangefarbenen Overalls von nuklearen Spuren gereinigt wird. «Dekontamination» heißt der Vorgang. Wer Würgassen besucht, erlebt eine Mischung aus Science-Fiction und Hochsicherheitstrakt. Gelbe Mülltonnen werden befüllt. An den Wänden hängen alte Telefongeräte aus den 80er Jahren.

Ende 2010 war eine Delegation von Tepco zu Besuch in Würgassen. Experten vom japanischen Betreiber des Unglücksreaktors in Fukushima schauten sich den Rückbau in dem ostwestfälischen Atomkraftwerk an. «Wenn man die Kollegen kennt, geht einem besonders unter die Haut, was da passiert ist», sagt Klimmek. In seinem Büro hängt ein japanisches Wandtuch. Ein Geschenk der Tepco-Delegation.

Mittlerweile kann Klimmek seinen Besuchergruppen immer weniger zeigen. Stein für Stein verschwindet das Kraftwerk. Die Kühlturme sind schon weg. Brennelemente sind längst abtransportiert. Verstrahlte Apparaturen werden chemisch gereinigt. Radioaktiv belastete Armaturen kommen ins werkseigene Zwischenlager. Das meiste Material aber gelangt ins Recycling. Rückbau als Kleinstarbeit. Insgesamt kostet der Abbruch E.ON Kernkraft rund eine Milliarde Euro.

«Unser Ziel ist eine grüne Wiese», sagt Klimmek. Er steht jetzt draußen vor dem Atomkraftwerk und blinzelt in die Sonne. Neben dem Rest-Meiler fließt die Weser. Irgendwann soll das beschaulich gelegene Areal im Weserbergland am Ostrand Ostwestfalens wieder Teil der Natur sein. Schon jetzt hat in der ländlichen Region eine neue Zeit begonnen. Wer nach Beverungen, Ortsteil Würgassen, reist, fährt an blühenden Rapsfeldern und zahlreichen Windrädern vorbei.

Zum Betriebsende von Würgassen gibt es verschiedene Versionen. 1994 lässt die damalige SPD-Landesregierung den Meiler abschalten. Ein Jahr später folgt die endgültige Stilllegung. «Aus wirtschaftlichen Gründen», sagt Klimmek. NRW-Energieminister Günther Einert (SPD) sagte damals, dass Würgassen «der Vergangenheit angehört». Mit immer neuen Prüfaufträgen angesichts eines Risses im Kernmantel zermürbt die Landesregierung den Betreiber PreussenElektra. Der Nachfolge-Konzern E.ON steuert heute den Rückbau.

«Würgassen war ein Pannenreaktor», sagt Peter Eichenseher. Er lacht zufrieden. In seiner Stimme klingt Stolz mit, weil der Meiler längst abgeschaltet ist. Der 57-Jährige ist Atomkraftgegner seit Studententagen.

Zwischen 1995 und 2005 saß Eichenseher für die Grünen im Landtag. In den 80er Jahren blockierte er mit der «kleinen, aber effektiven» Anti-AKW-Bewegung im konservativ geprägten Kreis Höxter regelmäßig das Zufahrtstor zum Kraftwerk, um den Betrieb aufzuhalten. E.ON-Mann Klimmek erinnert sich anders: «So effektiv war das gar nicht. Wir hatten mehrere Zugangswege.»

Absturz eines Kampfflugzeugs

Am Ende siegten die Atomkraftgegner, obwohl sie in der ländlichen Region Außenseiter waren. «Zahlreiche Pannen», wie Eichenseher sagt, aber auch dramatische Zwischenfälle trugen ihren Teil zum Ende von Würgassen bei. Im Juli 1978 stürzte ein britischer Kampfjet wenige Kilometer neben dem Kraftwerk ab. Die Maschine schlug auf eine Dorfstraße auf, wurde hochgeschleudert und explodierte, «eingehüllt in einen riesigen Feuerball», schrieb der «Spiegel». Der Unfall mit zwei toten Piloten und vier verletzten Anwohnern löste kurzzeitig eine Debatte über die Absturzsicherheit von Atomanlagen aus. Ohne Folgen. Angeblich verlief die Flugroute nicht über dem Kraftwerk.

2007 berichteten Medien über einen Mann aus einem Nachbarort von Würgassen, der im Vorgarten seines Hauses 110 Gramm schwach angereichertes Uran fand. Der Vorfall hatte wohl nichts mit dem Kraftwerk zu tun, bleibt aber bis heute rätselhaft.

Geschichten von früher. Würgassen ist selbst bald Geschichte – und gleichzeitig Zukunft. «Mit unseren Erfahrungen sind zukünftige Rückbauten deutlich schneller möglich», sagt der E.ON-Öffentlichkeitsarbeiter Klimmek. Insgesamt 5.000 Tonnen radioaktiver Abfall sind in Würgassen zu entsorgen.

Der anstehende beschleunigte Atomausstieg könnte dazu führen, dass Würgassen bald viele Nachahmer findet. Klimmek wird 2013 in Rente gehen – fast zeitgleich mit dem Ende des Rückbaus 2014. Die Kollegen in Würgassen sollen einen anderen Job im E.ON-Konzern bekommen.

Selbst Atomkraftgegner Eichenseher findet am Ende lobende Worte für das von ihm jahrelang bekämpfte Kraftwerk: «Würgassen ist heute High-Tech-Führer – erfreulicherweise für den Atomausstieg.»

Autor: dapd