Georg Meyer-Wahl: Neue Erkenntnisse über Wahrnehmungsveränderung im Alter

In seinem neuesten Kommentar widmet sich Georg Meyer-Wahl dem Thema Wahrnehmungsveränderung im Alter und konkret dem Phänomen der Gutgläubigkeit alter Menschen. Meyer-Wahl ist Diplom-Psychologe und praktizierender Psychotherapeut.

Georg Meyer-Wahl: Eine im Oktober 2012 in der “Proceedings of the National Academy of Sciences” erschienene Studie amerikanischer Wissenschaftler beschäftigt sich mit dem Phänomen der Gutgläubigkeit alter Menschen. Denn besonders alte Menschen neigen dazu, zu gutgläubig im Kontakt mit Fremden zu sein, sei es in Form von zu schnellem Einlassen in die Wohnung aufgrund nichtiger Vorwände („Ich bin ein Freund ihres Enkels.“) oder Taschendiebstählen („Soll ich ihre Tasche für Sie tragen?“).

Die Forscher fanden nun heraus, dass ältere Menschen in der Tat schwieriger als junge Testpersonen an der feinen Mimik erkennen, inwiefern eine Person vertrauenswürdig ist. Dieses Ergebnis hat auch ein neurologisches Korrelat: Das Hirnareal, welches im Normalfall vermutlich zuständig ist für das sogenannte ungute Bauchgefühl, lässt im Alter in seiner Aktivität nach. Diese Region, anteriore Insula genannt, wurde auch in vorherigen Untersuchungen bereits als relevant für Gefühle wie Abneigung oder Risikoeinschätzung eingestuft. Das Areal ist für die Wahrnehmung und erste Interpretation der Gefühle, und somit wohl auch für das bekannte Bauchgefühl, zuständig. Da dies jedoch im Alter weniger aktiv ist, lässt die Vorsicht automatisch nach.

Georg Meyer-Wahl zum Wohlbefindens-Paradoxon im Alter

Doch diese nachlassende Vorsicht und zunehmende Vertrauensseligkeit hat nicht nur ihre Schattenseiten. Es kann auch zur Erklärung beitragen für das psychologische Phänomen des „Wohlbefindens-Paradoxon im Alter“. Dies beschreibt die Tatsache, dass das Wohlbefinden bis zum sogenannten „Final Drop“ ca. drei Jahre vor dem Tod selbst im hohen Alter relativ stabil bleibt, obwohl es mit vielen physischen Einbußen wie vermehrter Gebrechen einhergeht. Viele Theorien haben versucht, dieses Paradoxon zu erklären, beispielsweise durch den sozialen Abwärtsvergleich mit Personen, denen es noch schlechter geht. Vermutlich tragen aber viele Puzzlestücke zu dem stabilen Wohlbefinden im Alter bei – ein hohes Maß an Gutgläubigkeit und geringe Aktivität im Hirnareal, welches Gefühle wie Abneigung interpretiert, könnte ein weiteres sein.
Georg Meyer-Wahl.