Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise über die neuen, heftigen Diskussionen zum Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitslose.
In Berlin liegen 26.000 Klagen von Hartz IV- Empfängern bei den Gerichten vor, in Hamburg sind es 3.800. Warum wird immer häufiger geklagt?
Weise: Zunächst sollte man die Zahlen richtig einordnen: Wir verschicken pro Jahr 24 Millionen Bescheide an Empfänger der Grundsicherung. Gegen rund 770.000 gibt es Widersprüche, die meisten davon klären wir gütlich. Weniger als ein Prozent aller Fälle landen also vor Gericht. Und bei diesen Fällen geht es um verschiedene Probleme: In vielen Fällen geht es um die Höhe der Unterkunftskosten, für die die Kommunen zuständig sind. Bei gut einem Drittel der Streitigkeiten fehlten Unterlagen, so dass wir nicht alle Informationen für einen richtigen Bescheid hatten.
In anderen Fällen gibt es einfach unterschiedliche Rechtsauffassungen, denn im Gesetz gibt es dehnbare Begriffe. Was bedeutet zum Beispiel ´angemessen`?
Aber die Zahl der Klagen nimmt doch zu?
Weise: Ja und nein. Gegenüber den früheren Systemen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist die Klagequote praktisch gleich geblieben. Wir sehen aber, dass sich die Bürger bei bestimmten Sachverhalten häufiger zur Wehr setzen. Das liegt an Präzedenzfällen der laufenden Rechtssprechung, aber auch daran, dass sich bei Bürgern und bei Rechtsanwälten regelrecht herumspricht, was Aussicht auf Erfolg haben könnte.
Fast jede 2. Klage hat Aussicht auf Erfolg. Wer hat sich da verrechnet?
Weise: Es geht eher selten darum, dass sich jemand verrechnet. Wie gesagt fehlen bei Streitfällen häufig Unterlagen. Dann ändert sich das Gesetz auch laufend, so dass dadurch Unstimmigkeiten entstehen. Es kommt auch vor, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ARGE bei der Bewertung von Sachverhalten Fehler machen. Solche Fehler sind ärgerlich, vor allem für den Bürger, aber nicht vollständig auszuschließen.
Stimmt vielleicht etwas mit den Hartz IV-Gesetzen nicht? Sind sie zu kompliziert oder nicht ausgereift?
Weise: Die Gesetze sind komplex, jedoch ist es die Aufgabe einer Behörde, damit umzugehen. Aber ein neues Gesetz vom Umfang der Grundsicherung wirft in der Praxis nun mal Fragen auf, die häufig erst vor Gericht geklärt werden können.
Angeblich blocken viele Jobcenter bei schwierigen Fällen ab. Unter anderem bei Selbstständigen, denen die Einnahmen weg brechen und die jetzt auf die Unterstützung angewiesen sind. Es heißt, sie verzögern die Verfahren. Ist das eine böswillige Behauptung?
Weise: Es ist falsch, uns so etwas zu unterstellen. Die Geschäftspolitik ist eindeutig: Wir wollen jeden Kunden schnell, freundlich und fachkundig bedienen. Wer Hilfe braucht, bekommt sie. Wenn Mitarbeiter der ARGEn sich in Einzelfällen an diese Regeln nicht halten, muss das geklärt werden. Dabei sind die Führungskräfte aber auf die entsprechenden Hinweise angewiesen.
Wieso kommt Hartz IV jetzt so ins Gerede? Und warum fordert die Politik und Wohlfahrtsverbände eine Überarbeitung der geltenden Regeln?
Weise: Die Grundsicherung ist immer schon ein öffentliches Thema. Es ist aus drei Gründen jetzt besonders aktuell: Fünf Jahre nach der Einführung wird Bilanz gezogen und die Organisation der Jobcenter muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in diesem Jahr neu geordnet werden.
Soll Hartz IV nach Ihrer Meinung verbessert werden?
Weise: Verbessern ja, Totalrevision nein. Die Grundsicherung war und ist richtig, und sie hat sich bewährt. Im Jahr der schlimmsten Wirtschaftskrise, die wir erlebt haben, gab es 1,5 Millionen weniger Arbeitslose als zur Einführung des Gesetzes im Jahr 2005. Und 2009 ist die Langzeitarbeitslosigkeit sogar leicht reduziert worden. Das ist doch ein Erfolg.
Gibt es nicht doch Schwachpunkte?
Weise: Es gibt zweifellos Verbesserungsmöglichkeiten. Grob gesagt: Das Gesetz versucht zu stark, jedem Einzelfall gerecht zu werden. Das kann ein Gesetz aber nicht leisten und dadurch kommt es zu Unklarheiten. Ich bin dafür, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter mehr Freiheiten zu geben und ihnen zu vertrauen, dass sie die Anliegen der Menschen im besten Sinne lösen.
Autor: Quelle: Bundesagentur f. Arbeit/ Redak