Der neue Gault&Millau kritisiert mehr Schein als Sein

Der neue Gault&Millau kritisiert mehr Schein als Sein und mehr / copyright: Christian Verlag
Der neue Gault&Millau kritisiert mehr Schein als Sein und mehr
copyright: Christian Verlag

Das Motto ‚Mehr Schein als Sein‘ findet leider auch in der deutschen Gastronomie zunehmend Anhänger. Immer öfter spielen Äußerlichkeiten eine größere Rolle als das, worum es eigentlich geht: den guten Geschmack, so die französische Gourmetbibel Gault&Millau in ihrer jetzt erscheinenden Deutschlandausgabe 2016.

“Landauf, landab begegneten wir vielen Tellern, die anscheinend nur auf Optik getrimmt sind. Schon klar, man möchte all den Bloggern und Gourmetnomaden, die am nächsten Morgen schöne Fotos ins Netz stellen wollen, etwas bieten. Deswegen sehen immer mehr Teller aus wie von Foodstylisten designt. Leider schmecken sie auch so“, beklagt die deutsche Ausgabe der französischen Genussbibel Gault&Millau 2016 weiter.

Doch es geht auch anders: Viele Köche nehmen sich derzeit mit besonderem Ehrgeiz des Themas Gemüse an – der Gourmetführer präsentiert die besten Gerichte des Jahres. Er setzt sich zudem mit aktuellen Genusstrends wie Streetfood als Inspiration für die gehobene Küche, dem Kult um Highend-Rinder wie Wagyu&Co sowie der Wiederentdeckung alter Rassen auseinander. Zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung ziehen die Kritiker eine kulinarische Bilanz der Entwicklung in den neuen Bundesländern: Perspektivisch gesehen geht es aufwärts, vor allem in den vom Tourismus begünstigten Metropolen Leipzig und Dresden, der Kulturstadt Weimar sowie den Ostseebädern. Engagierte Landwirte, Züchter und Jäger beliefern heute sogar Berliner Spitzenköche und immer mehr junge Gastronomen kehren von Lehr- und Wanderjahren in ihre Heimat zurück, um den kulinarischen Aufbau Ost voranzutreiben.

Vehement bedauern die Kritiker die Tendenz zur Großen Küche per Knopfdruck: „In Abwandlung eines viel zitierten Satzes von Eckart Witzigmann (Das Produkt ist der Star) heißt es in vielen deutschen Küchen heute: Die Technik ist der Star. Allenthalben bekommt man minimalen Wareneinsatz, aufgemotzt mit größtmöglicher Küchentechnik. Mit Vakuumiergerät, Rotationsverdampfer, Thermomix und Pacojet gleichen viele Küchen heute technisch hochgerüsteten Versuchslaboren. Diese Technikverliebtheit deutscher Köche führt nicht zum Genussgewinn für den Gast, sondern zu einer Verarmung des Kochhandwerks. Schade finden wir, wenn junge Küchenchefs nicht mehr den Ehrgeiz an den Tag legen, dem Gast innerhalb eines Menüs Fisch und Fleisch in verschiedenen Garmethoden zu bieten, sondern alles, vom Kaninchen über die Bachforelle bis zum Entrecôte, stereotyp in Plastik packen und ins Wasserbad senken – mit dem erwartbaren Ergebnis, dass der zarte Fisch jegliche Struktur verliert und das Fleisch Saft und Kraft. Es ist so weit gekommen, dass man als Gast regelrecht Dankbarkeit empfindet, wenn man einmal wieder eine großzügig portionierte, saftige Schnitte besten bretonischen Steinbutts auf dem Teller hat, der nach Meer und nicht nach Verfremdung schmeckt.“

Der „Koch des Jahres“ tischt FKK und Peep Show auf

Als „Küchenkünstler voller Sturm und Drang mit einem mutig-eigenständigen Stil“ kürt der Guide den 46-jährigen Peter Maria Schnurr vom Leipziger Restaurant „Falco“ zum „Koch des Jahres“. „Wer seine Karte mit Kreationen wie ‚FKK‘ (ein Stopflebergericht) und ‚Peep Show‘ (ein Dessert auf Mango-Basis) schmückt, der will provozieren und so ist auch seine Küche: voller expressiver Aromen und überraschender Produktallianzen, die am Gaumen aber stets perfekt aufgehen“, so urteilen die Tester. Und schwärmen: „Ein grandioser Teller ist auch der butterzart gegarte Bauch vom Livar-Klosterschwein, den eine Garnitur von Pastinakenpüree, geschmortem Spitzkohl, eingeweckter Quitte und Senfkörner zierte. Dazu gab es nichts als einen ordentlichen Klacks intensiv schmeckenden, den Gaumen aber kühl streichelnden Haselnussjoghurt.“

Für solche Gerichte erhält der gebürtige Schwarzwälder, der in seiner Freizeit Schlagzeug spielt und gern schnelle Autos sowie gelegentlich Skateboard fährt, 19 von 20 möglichen Punkten. Sie stehen in dem Guide, der nach dem französischen Schulnotensystem urteilt, für „weltbeste Restaurants”.

Eine noch höhere Note erhielt mit 19,5 Punkten erstmals Christian Jürgens von der „Überfahrt“ in Rottach-Egern am Tegernsee für seine „tiefgründigen Genüsse voller kulinarischem Esprit, die umso eindrucksvoller sind, je unspektakulärer sie daherkommen.“ Typisch für „seine Genieblitze ist etwa das Lamm als eine Art überhöhte Spare Rib, die sich als raffiniert marinierte, geschmorte und gefüllte Geschmackssensation entpuppt: Nur das zarteste Fleisch aus der Rippe wurde, im Wechsel mit geröstetem Brot geschichtet, in einen Lammschinken gewickelt und in der Sauce gargezogen.“

Auf 18 Punkte, die „höchste Kreativität und bestmögliche Zubereitung” bedeuten, steigern sich Andreas Krolik vom „Lafleur“ in Frankfurt am Main, Tohru Nakamura von „Geisels Werneckhof“ in München und Paul Stradner von „Brenners Park-Restaurant“ in Baden-Baden, der „das sehr traditionsreiche Haus in solcher kulinarischen Frische vibrieren lässt“, dass ihn die Kritiker dafür als „Aufsteiger des Jahres“ küren.

17 Punkte erreichen erstmals Andreas Aumer vom „Aumers La Vie“ in Nürnberg, Tristan Brandt vom „Opus V“ in Mannheim, Sascha Kemmerer von der „Kilian Stuba“ im Kleinwalsertal, Mario Paecke vom „Luce d’ Oro“ in Elmau (Oberbayern), Kurt Podobnik von „Podobnik’s Gourmet“ in Würselen (Rheinland), Mario Sauer vom „Le Gourmet“ in Heidelberg, Daniel Schimkowitsch vom „L. A. Jordan“ in Deidesheim und Daniel Schmidthaler von der „Alten Schule Fürstenhagen“ in Feldberger Seenlandschaft (Mecklenburg).

Deutschlands beste Köche

An der Spitze der kulinarischen Hitparade des Gault&Millau stehen mit 19,5 Punkten neben dem Aufsteiger Christian Jürgens wie bisher:

  • Klaus Erfort vom „GästeHaus“ in Saarbrücken, dessen „Gerichten der Zauber vermeintlicher Schlichtheit innewohnt, die er ganz unangestrengt auf den Teller bringt. Wenn andere Köche im Kreativitätswahn die Teller überladen, was meist nur Indiz für Unsicherheit ist, schafft Erfort in seiner Konzentration auf den Höchstgenuss ganz selbstsicher ein Höchstmaß an Klarheit, stets in sich stimmig.“
  • Harald Wohlfahrt von der „Schwarzwaldstube“ in Baiersbronn, der „sich souverän über sämtliche modischen Strömungen erhebt und eine Küche bietet, die sich zwar aller zeitgemäßen Entwicklungen bewusst ist, davon aber jeweils nur so viel aufnimmt, dass sie sich selbst im Wesen immer treu bleibt“.
  • Joachim Wissler vom „Vendôme“ in Bergisch Gladbach, der „höchste Perfektion und Konzentration leistet und von den Gästen Aufgeschlossenheit und Neugier auf ungewöhnliche Kreationen erwartet, die oft wie küchenintellektuelle Herausforderungen wirken“.
  • Helmut Thieltges vom „Waldhotel Sonnora“ in Dreis bei Wittlich (Südeifel), der „unbeeindruckt von allem Modischem, trendigen Produkten, fernöstlicher oder nordischer Küchenstilistik die erlesensten Produkte aus Frankreich in höchstmöglichem Wohlgeschmack zubereitet“.

Diesem Quartett folgen neben Peter Maria Schnurr mit je 19 Punkten, die sie bereits im Vorjahr hatten

  • Christian Bau vom „Victor’s Fine Dining by Christian Bau“ im saarländischen Perl-Nennig („kulinarische Reise von Paris nach Tokio unter meisterlicher Ausreizung des gesamten sensorischen Spektrums“),
  • Thomas Bühner vom „La Vie“ in Osnabrück („je einfacher etwas in diesem Gesamtkunstwerk geschmacksmächtiger Gerichte scheint, desto aufwendiger ist es zubereitet“),
  • Sven Elverfeld vom „Aqua“ in Wolfsburg („staunend bewundert man, wie er im Geschmack, in der Temperatur und vor allem in der Intensität unterschiedliche Aromen perfekt vereint“),
  • Claus-Peter Lumpp vo
    m „Bareiss“ in Baiersbronn („eine in ihrem Wesen der Klassik verbundene, aber auf der Höhe der Zeit präsentierte Küche voller Sinnlichkeit und großer Geschmackstiefe“),
  • Tim Raue vom Restaurant „Tim Raue“ in Berlin („seine asiatisch inspirierte Parforcejagd durch die Aromen ist eines der größten kulinarischen Erlebnisse hierzulande“),
  • Christoph Rüffer vom „Haerlin“ in Hamburg („bei allem Aufwand, den kein Teller verhehlt, haben seine Schöpfungen, deren Stärke die Verbindung von Aromen ist, etwas spielerisch Leichtes“),
  • Hans Stefan Steinheuer von „Steinheuers Restaurant zur alten Post“ in Bad Neuenahr („wie die zum Auftakt völlig uneitel angekündigte Gänseleber mit jungen Mandeln und Traubenmost ist hier fast alles ein nicht enden wollender genussvoller Reigen auf dem Teller“).

Von den 35 deutschen Topköchen, die 18 bis 19,5 Punkte bekommen, stehen 8 in Bayern, 5 in Rheinland- Pfalz sowie je 4 in Baden-Württemberg und Berlin am Herd.

„Bester Deutscher Koch im Ausland“: Rainer Becker mit 13 Restaurants auf 3 Kontinenten

Außer dem Koch und dem Aufsteiger des Jahres zeichnet der Guide noch weitere kulinarische und gastronomische Leistungen aus:

  • „Oberkellner des Jahres“: Kathrin Feix vom „Il Giardino“ in Bad Griesbach (Bayern),
  • „Sommelier des Jahres“: Frank Glüer vom „EssZimmer“ in München,
  • „Entdeckung des Jahres“: Jochim Busch, 28, vom „Gustav“ in Frankfurt („bei dem Regionales und Bio nicht modisch anbiedernd, sondern gründlich durchdacht wirken“),
  • „Pâtissier des Jahres“: Thomas Yoshida vom „Facil“ in Berlin,
  • „Restaurateur des Jahres“: Ali Güngörmüs, der das „Le Canard Nouveau“ in Hamburg und das „Pageou“ in München führt,
  • „Bester Deutscher Koch Im Ausland“: Rainer Becker, der 13 Restaurants (unter den Namen „Zuma“, „Roka“ und „Oblix“) in drei Kontinenten betreibt,
  • „Hotelier des Jahres“: Heiner und Renate Finkbeiner, die die „Traube Tonbach“ in Baiersbronn, „Schloss Monrepos“ in Ludwigsburg bei Stuttgart sowie das „Montforthaus“ in Feldkirch (Österreich) führen und „seit 1993 Maßstäbe für die Hotellerie als Genusswelt“ setzen.

Große Talente der modernen Küche

Ausdrücklich würdigt der Guide junge Köche zwischen Mitte 20 und Anfang 30, die wie Jochim Busch in dieser Testsaison erstmals Küchenchef wurden und aufgrund ihres Talents und Engagements das kulinarische Deutschland bereichern können: Erik Arnecke vom „Philipp Soldan“ in Frankenberg bei Marburg, Sonja Baumann und Erik Scheffler vom „Gut Lärchenhof“ in Pulheim bei Köln, Benjamin Gallein vom „Ole Deele“ in Burgwedel bei Hannover, Andreas Hettinger vom „Délice“ in Stuttgart und Micha Schäfer vom „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin (alle 16 Punkte) sowie Christian Michel vom „Schwarzreiter“ in München und Manuel Schmuck vom „Martha‘s“ in Berlin (beide 15 Punkte).

Insgesamt beschreibt und bewertet der alljährlich wegen seiner strengen Urteile und deren zuweilen sarkastischer Begründung von den Köchen gefürchtete, von den Feinschmeckern mit Spannung erwartete Gault&Millau in seiner neuen Ausgabe 923 Restaurants. Die 33 Tester, die stets anonym auftreten und dieses Jahr 244.800 Euro Spesen machten, verleihen 748 Luxuslokalen und Landgasthöfen, Bistros und Hotelrestaurants die begehrten Kochmützen.

Der Guide erscheint im Münchner Christian Verlag (656 Seiten, 34.99 Euro), ISBN 978-3-86244-830-2. Zu bestellen ist der Genussguide z.B. bei Amazon.

Autor: Redaktion / GeraNova Bruckmann Verlagshaus